© 1998, Susanne Störmer
Im Gegensatz zu dem Dreiteiler „Auf Wiedersehen, viel Glück“ von 1993 hatte ich 1998 mehr Quellen erschlossen. Dennoch gibt es einige Aspekte, die aus heutiger Perspektive mit ergänzenden Anmerkungen versehen werden müssen.
Versager oder fähiger Seemann?
Wer sich mit der Titanic befasst, stößt unweigerlich auf den Namen William McMaster Murdoch. Zum Zeitpunkt der Kollision war er nicht nur 1. Offizier des Schiffes, sondern er hatte auch das Kommando auf der Brücke [1] und war damit verantwortlich für das Ausweichmanöver. Obwohl er eine entscheidende Rolle in der Katastrophe spielte – ein anderer Offizier mit dem Kommando auf jener Brücke zu jenem Zeitpunkt, und die Geschichte hätte anders ausgehen können – kann man nur wenig Informationen über Murdoch in den bekannteren Titanic-Büchern finden. Wer also war William McMaster Murdoch? War er der inkompetente Versager, zu dem ihn einige Titanic-Historiker machen wollen? Oder war ein durchaus fähiger Offizier, der nur das Pech hatte, dass der Eisberg zu spät gesichtet wurde, um noch auszuweichen?
William McMaster Murdoch wurde am 28. Februar 1873 in Dalbeattie (Schottland) geboren. Sein Vater war Segelschiffkapitän auf großer Fahrt, seine Mutter stammte ebenfalls aus einer Seefahrerfamilie, und überhaupt schien der Name „Murdoch“ Programm zu sein, denn es ist das gälische Wort für „Seemann“. Die Murdochs fuhren übrigens seit Generationen im Offiziers- und Kapitänsrang zur See, und zur Jahrhundertwende bildeten sie mit ihren Verwandten eine der größeren britischen Seefahrerfamilien. William McMaster Murdoch entschied sich schon früh, dieser Tradition zu folgen.
Nachdem er seine Schulzeit an der Grundschule und später der Highschool von Dalbeattie absolviert hatte, heuerte er im Alter von 15 Jahren als Offiziersanwärter auf der Bark Charles Cotesworthan. Anwärter auf einem Segelschiff zu sein, bedeutete ein hartes Leben, doch wenn man diese Zeit überlebte, kannte man alle Härten des Lebens und konnte mit ihnen umgehen. Die Jungen waren auf engstem Raum mit ihnen teilweise übel gesonnenen Besatzungsmitgliedern und lernten, wie sie ihnen zu begegnen hatten. Sie beobachteten Gewalt und schreckliche Tode. Sie lernten, Gefahren ins Auge zu sehen und ihre Angst zu überwinden. Alles, was von ihnen verlangt wurde, mussten sie ohne Zögern und unter allen Umständen sofort machen. Jeder, der nicht die gewünschten Qualitäten und Charakterzüge zeigte, wurde einfach beiseite geschoben. Doch jeder, der lernte, sich unter diesen Bedingungen durchzusetzen, seinen Weg zu finden und alles zu überleben (Schiffsuntergänge waren damals keine Seltenheit), wurde ein zuverlässiger Offizier, der gegenüber allem abgehärtet war, und der die geforderte Führungsrolle übernehmen und zudem jede Situation meistern konnte, unabhängig davon, wie schrecklich und aussichtslos die Lage auch war.
Nach vier Jahren Anwärterzeit unter Segeln bestand William die Prüfung für das Patent des 2. Offiziers und heuerte danach auf dem Vollschiff Iquique in dieser Position an. Kapitän der Iquique war sein Vater.
Nach einer Reise um die Welt bestand William die Prüfung zum 1. Offizier und diente danach auf der Bark St. Cuthbert in dieser Position.
Nachdem er ausreichend Erfahrungen als 1. Offizier gesammelt hatte, um die Bestimmungen des britischen Handelsministeriums zu erfüllen, unterzog sich William der Prüfung des Extra Master Patents – das höchste Patent, das ein Handelsmarineoffizier erwerben konnte und das noch über dem Kapitänspatent angesiedelt war – und bestand im ersten Anlauf.
Viele Werke über die Titanic behaupten, dass Murdoch nur das normale Kapitänspatent hatte, doch das ist eindeutig ein Fehler. In zeitgenössischen Dokumenten des Handelsministeriums hinsichtlich der Seeklarheit der Titanic wird Murdoch mit dem Patent „Extra Master“ geführt, und Harold Sanderson, einer der Direktoren der White Star Line, sagte vor dem britischen Untersuchungsausschuss nach dem Untergang der Titanic, dass alle dienstälteren Offiziere jenes Schiffes im Besitz des Extra Masters waren, also Wilde, Lightoller und eben auch Murdoch.
Nachdem Murdoch alle seine Patente beisammen hatte, machte er eine weitere Fahrt unter Segeln, dieses Mal als 1. Offizier auf der Lydgate. Im Jahre 1898 brauchte dieses Schiff eine unglaublich lange Zeit für eine Passage von der Westküste der USA nach China, dass es bereits als „überfällig“ geführt wurde – meistens ein eindeutiges Zeichen dafür, dass das Schiff auf der Fahrt verloren gegangen und mit Mann und Maus gesunken war – doch die Lydgate erreichte ihren Zielhafen. Für alle an Bord war diese lange Überfahrt eine nicht sehr angenehme Erfahrung, denn der vor der Abreise an Bord genommene Proviant reichte traditionell nicht für großartige Mahlzeiten, so dass Hunger ein ständiger Begleiter auf Segelschiffen war. Und wenn die Fahrt länger als angenommen dauerte, wurde dieser wenige Proviant auch noch richtig knapp. Man darf sich die Versorgung der Besatzungen von Segelschiffen nicht als gute Qualität vorstellen – Windjammer hatten keine Kühlräume (dafür fehlte es an Strom), so dass frische Lebensmittel nur wenige Tage lang nach der Ausfahrt erhältlich waren. Warmes Klima sorgte dafür, dass haltbarere Nahrungsmittel ebenfalls verdarben, und überwiegend wurden alle Mitglieder der Besatzung mit Pökelfleisch, Schiffszwieback – und Zitronensaft ernährt. Der Zitronensaft sollte Skorbut, eine Vitaminmangelerkrankung, verhindern.
Das Trinkwasser auf Segelschiffen konnte man ebenfalls auch nicht als Heilwasser bezeichnen. Es wurde in Tanks aufbewahrt und war oftmals grün und leicht faulig. Übrigens war auch das Wasser streng rationiert – und jeder an Bord musste mit der ihm zustehenden Wasserration nicht nur seinen Durst stillen können, sondern es wurde zugleich eine gewisse Menge pro Kopf für das Kochen abgezogen.
Und entgegen anderslautender Gerüchte hatten viele Kapitäne auf ihren Schiffen ein striktes Alkoholverbot ausgesprochen.
Warum nicht während einer langen Reise unterwegs ein Hafen angelaufen und neuer Proviant und frisches Wasser an Bord genommen wurde? – Es war alles eine Frage von Kosten und Konkurrenz. Jeder Hafenaufenthalt verursachte Kosten, zum einendurch die Liegegebühren und die Hafensteuer, zum anderen aber auch durch die Verlängerung der Fahrt, die nicht nur die Proviantkosten, sondern auch die Personalkosten in die Höhe trieb. Zu Murdochs Zeiten hatten Segelschiffe gerade auf langen Strecken einen erheblichen Vorteil gegenüber Dampfern – sie konnten durchfahren, während die Dampfer immer wieder Häfen anlaufen und zumindest Kohle übernehmen mussten. Das machte Segelschiffe auf lange Strecken wirtschaftlicher als Dampfer. Außerdem war zu jener Zeit ein Segelschiff, das unter vollen Segeln fahren konnte, von der reinen Geschwindigkeit her schneller als alle reinen Frachtdampfer und schneller als die meisten Kombischiffe. Doch während ein Dampfer unabhängig von Wind und Wetter seinen Kurs beibehalten konnte und zudem solange wie möglich mit voller Kraft voraus fuhr, waren Segelschiffe vom Wind abhängig und konnten nie einen geraden Kurs steuern.
Letztendlich war es bereits zu Murdochs Segelschiffzeiten absehbar, dass die Dampfer die stolzen Windjammer zum Aussterben verurteilen würden, und so schloss sich auch William McMaster Murdoch im Jahre 1899 den Federbettseemännern an – es gelang ihm, von der White Star Line angenommen zu werden, zu jener Zeit die beste Adresse unter Großbritanniens Reedereien.
Sein erstes Schiff bei der White Star Lione war die Medic, die im Australiendienst eingesetzt wurde. Und für Murdoch war es eine völlig neue Welt. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln war ausgesprochen gut, es gab geheizte Kabinen und damit eine Möglichkeit, bei schlechtem Wetter die nassen Sachen wieder zu trocknen – auf Segelschiffen hatte man manchmal für Wochen kein trockenes Kleidungsstück – und zumindest die dienstälteren Offiziere taten ihren Dienst im Drei-Wachen-System, während für die dienstjüngeren Offiziere wie auf Segelschiffen immer noch der harte Dienst mit Wache um Wache, d. h. vier Stunden Dienst, vier Stunden Freiwache mit den traditionellen Hundewachen am Nachmittag, galt.
Auf die Medic folgte die Runic, ebenfalls ein Schiff im Australiendienst, und Murdoch diente auf diesem Schiff als 2. Offizier. womit er in den vollen Genuss aller Vorteile eines Lebens auf Dampfern kam. Auf der Runic lernte Murdoch auch Ada Florence Banks kennen. Sie war eine Lehrerin aus Neuseeland und mit Freunden auf einer Europareise. Übrigens war Miss Banks auf den Tag genau zehn Monate jünger als der 2. Offizier der Runic.
Im Jahr 1903 wurde Murdoch auf die Arabic und damit in den Atlantikdienst versetzt; er nahm sogar an der Jungfernfahrt des Schiffes teil. Und es war auf der Arabic, als folgender Zwischenfall passierte:
Murdoch hatte gerade die Brücke betreten, um den wachhabenden Offizier abzulösen, als der Ausguck die Lichter eines Segelschiffes meldete. Der Chief Officer, immer noch mit dem Kommando auf der Brücke, da er die Wache noch nicht übergeben hatte, befahl: „Hart backbord.“ Doch bevor der Rudergänger auch nur den Hauch einer Chance gehabt hatte, diesen Befehl auszuführen, sprang Murdoch zum Steuer, schob den Quartermaster zur Seite, griff selbst in die Speichen und hielt die Arabic auf ihren alten Kurs. Der Chief Officer wiederholte seinen Befehl, und da eine Kollision unausweichlich zu sein schien, suchten sich alle einen sicheren Platz auf der Brücke – nur Murdoch blieb am Ruder stehen und hielt die Arabic weiter auf ihrem alten Kurs.
Das Segelschiff und die Arabic verpassten einander ganz knapp.
DIeser Zwischenfall zeigt zwei Dinge: Erstens reagierte Murdoch schnell und zweitens auf eigene Initiative. Er missachtete den Befehl eines Vorgesetzten und führte seine eigenen Ideen aus, ohne jedoch großartig Befehle zu schreien und damit Verwirrung zu stiften. Seine Entscheidung stellte sich als richtig heraus, doch wäre die Arabic mit dem Segelschiff kollidiert, wäre die Sache anders gewesen.
Nichts ist darüber bekannt, welche Fragen Murdoch danach deswegen beantworten musste – keiner konnte ohn für seine Aktion in irgendeiner Art beschuldigen, da er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine Kollision verhindert hatte, doch der Weg, wie er das gemacht hatte, wurde bei Vorgesetzten nicht gerne gesehen, schließlich hatte Murdoch sich einem Befehl widersetzt und auch nicht den Regeln der Hierarchie gehorcht. Es war ganz einfach eine Sache von: „Du hast zwar richtig gehandelt, aber du hättest es nicht machen dürfen. Wir müssten dich deswegen tadeln, können es aber nicht, doch wir können dich auch nicht loben!“
Murdochs Karriere bei der White Star Line ging weiter. Er diente auf der Celtic, Cedric, Germanic und Oceanic, und dann wartete eine weitere Jungfernfahrt auf ihn, die der Adriatic im Jahre 1907.
Bald danach heiratete Murdoch Ada Florence Banks in Southampton. Er war 34 Jahre alt, die Braut war noch 33. Die Ehe blieb kinderlos.
Murdoch blieb auf der Adriatic, bis er im Jahre 1911 auf die Olympic versetzt wurde und an einer weiteren Jungfernfahrt teilnahm. Er war auch auf der Olympic, als sie im Herbst 1911 mit dem Kreuzer Hawke kollidierte. Im März 1912 verließ Murdoch die Olympic und wurde auf die Titanic versetzt.
Zu dem Zeitpunkt hatte er fast 24 Jahre auf See verbracht un dauf den verschiedensten Schiffen gedient. Murdoch hatte sich einen Ruf als bester und smartester Seemann der Welt aufgebaut, und seine Kameraden, die Besatzungsmitglieder und natürlich die Reederei hielten große Stücke auf ihn. Er hatte bewiesen, dass er ein Mann mit eisernen Nerven und schnellen Reaktionen war. In jenen Tagen zweifelte niemand daran, dass Murdoch ein äußerst fähiger Offizier war. Außerdem war er eine natürliche Autorität; er wurde als „groß und beeindruckend“ beschrieben – und doch hatte er eine zukommende, freundliche Art. Ihm gelang es dadurch auch, die Barrieren der Hierarchie zwischen Offizieren und „normaler Besatzung“ zu durchbrechen. Zudem befahl Murdoch nicht einfach nur, sondern, wenn die Zeit es erlaubte, begründete er diesen Befehl gegenüber dem Empfänger. Doch wie alle Offiziere in jenen Tagen war Murdoch auch sehr strikt in Sachen Disziplin. Der Privatmensch Murdoch dagegen galt als bescheiden und anspruchslos. Und im Gegensatz zum Beispiel zu Kapitän Edward John Smith, der so gerne repräsentierte, dass Titanic-Überlebender Major Arthur Peuchen ihn eher abfällig als „Gesellschaftskapitän“ bezeichnete, fühlte Murdoch sich immer ausgesprochen unwohl, wenn er für offizielle Fotos posieren musste.
Während die Titanic für die Probefahrten in Belfast seeklar gemacht wird, dient Murdoch als Chief Officer, während er auf der Olympic noch 1. Offizier war. Die Probefahrten sollen am 1. April beginnen, werden aber wegen starkem Wind abgesagt. Am 2. April jedoch absolviert die Titanic ihre Probefahrt. Und am Abend des 2. April verlässt das Schiff Belfast mit Kurs auf Southampton, wo es in der Nacht zum 4. April ankommt.
Danach wird den dienstälteren Offizieren eröffnet, dass eine Umbesetzung stattfinden soll – Henry Tingle Wilde, der bereits auf ein eigenes Kommando wartet, soll als Chief Officer an Bord kommen. Dadurch würden William McMaster Murdoch und Charles Herbert Lightoller um einen Rang degradiert werden, während der bisherige 2. Offizier David Blair die Titanic verlassen müsste.
Da die Hintergründe nie aufgeklärt werden, gibt es verschiedene Gerüchte, warum die Umbesetzung stattfindet. Zwei davon scheinen die beliebtesten unter den Titanic-Forschern zu sein.
Die eine Version lautet: Kapitän Smith wollte seinen Chief Officer von der Olympic, Henry Tingle Wilde, auf der Titanic haben.
Die zweite Version lautet: Entweder Kapitän Smith oder aber die Reederei dachten, dass Murdoch nicht genug Erfahrung für den Posten des Chief Officers und mit diesen großen Schiffen hat, und deswegen ist es wünschenswert, dass Wilde an Bord kommt.
Wenn wir uns mit diesen Gerüchten befassen, sollten wir uns wundern, ob Kapitän Smith wirklich so großen Einfluss hat, dass er seinen Lieblingsoffizier (wenn Wilde es denn überhaupt war) als Chief Officer an Bord holen kann und dadurch für einige Verwirrung sorgt.
Und wenn wir uns mit dem zweiten der beliebtesten Gerüchte befassen, müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, dass Murdoch über genau so viel Erfahrung mit den großen Schiffen verfügte wie Smith und Wilde, und damit kann der Erfahrungsfaktor ebenfalls nicht zählen. Zudem ist zu beachten, dass auf der Olympic, als sie 1911 in Dienst gestellt wurde, niemand an Bord Erfahrungen mit diesen großen Schiffen hatte.
Außerdem müssen wir im Zusammenhang mit dem zweiten Gerücht hinsichtlich der Umbesetzung zugeben, dass es nicht für sehr gute Personaleinsatzplanung der Reederei spricht, wenn sie Offiziere auf ein Schiff versetzt und zwei Wochen später feststellt, dass ihnen die Erfahrung fehlt. – Wir haben es hier mit einer Reederei zu tun, die zu jener Zeit über einen ausgezeichneten Ruf verfügte (die Titanic schwamm ja noch!) und eine der größten Reedereien der Welt war.
Lange Rede, kurzer Sinn: Die Hintergründe für die Umbesetzung bleiben eines der Geheimnisse der Titanic, doch für Murdoch ist diese Umbesetzung entscheidend, denn nur dadurch wird er zu dem Offizier, der zwischen 10 und 2 Uhr morgens und abends auf Wache ist, und nur dadurch wird er zum Offizier mit Kommando über die Brücke, als der fatale Eisberg gesichtet wird.
Hätte die Umbesetzung nicht stattgefunden, wäre Lightoller der wachhabende dienstältere Offizier auf der Brücke zum Zeitpunkt der Kollision gewesen – und wenn Lightoller auch nicht schneller als Murdoch hätte reagieren, so hätte er doch eine andere Entscheidung treffen und damit die Geschichte umschreiben können.
Die Jungfernfahrt der Titanic nimmt ihren Lauf, und es scheint eine weitere ganz normale Jungfernfahrt zu werden – für Murdoch übrigens die vierte seiner Laufbahn [2]. Zu den Pflichten des 1. Offiziers gehört – neben dem normalen Wachdienst – die Erstellung einer Bootsliste für die Besatzung. Es geht also darum, eine Besatzung von rund 900 Mann auf die 20 Boote mit 1178 Plätzen aufzuteilen. Diese Tätigkeit hat Murdoch während seiner Freiwachen zu erledigen, und nach dem Verlassen Queenstowns wird die Liste für die Offiziere, Matrosen und Stewards ausgehängt, während die Liste für die Heizer, Trimmer und Schmierer – gemeinhin als „Black Gang“ bezeichnet – erst am Sonntag, dem 14. April 1912, von einem Ingenieur ausgehängt wird. – Selbst die anderen Offiziere kümmern sich kaum um die ausgehängte Bootsliste – während der 3. Offizier Pitman und der 4. Offizier Boxhall später beide behaupten, Boot Nr. 1 sei ihr Boot im Falle einer Notsituation, weiß der 5. Offizier Lowe nicht mal, welchem Boot er zugeteilt war. Vor dem britischen Untersuchungsausschuss hat er keine vernünftige Erklärung dafür – außer der Tatsache, dass es sicherlich seine Aufgabe gewesen wäre, seinen Bootsplatz herauszufinden, er es aber nicht getan hat.
Am 14. April 1912 ist Murdoch von 10 Uhr morgens bis 2 Uhr nachmittags auf Wache und wird von 12:30 Uhr bis 1 Uhr mittags vom 2. Offizier Lightoller für sein Lunch abgelöst. Während dieser Zeit kommt Kapitän Smith mit einer Eiswarnung auf die Brücke, und als Murdoch die Wache wieder übernimmt, informiert ihn Lightoller darüber. Später sagt Lightoller aus, dass er es Murdochs Gesichtsausdruck nicht entnehmen konnte, ob die Nachricht neu für ihn war.
Am Abend ist es dann Murdoch, der den 2. Offizier Lightoller zwischen 19 Uhr und 19:30 Uhr für dessen Dinner ablöst (gemäß Lightoller ist Murdoch vor ihm zu Tisch gewesen). Und um 19:15 Uhr macht der Lampentrimmer Samuel Hemming Murdoch Meldung, dass alle Lampen in Ordnung sind und brennen. Als Hemming schon wieder im Gehen begriffen ist, ruft Murdoch ihn noch mal zu sich und sagt: „Hemming, wenn Sie nach vorne gehen, sorgen Sie dafür, dass das vordere Kohlenluk geschlossen wird, denn es kommt ein Lichtschein von dort, und wir sind in der Nähe von Eis, und ich möchte, dass vor der Brücke alles dunkel ist.“ – Hemming schließt das Luk persönlich.
Für Murdoch ist es wichtig, dass im Sichtfeld voraus kein Licht vom Schiff blendet, denn in dunkler Nacht kann ein noch so schwacher Lichtschein den Blick voraus behindern. Diese Maßnahme Murdochs ist übrigens die einzige Vorsichtsmaßnahme, die an Bord der Titanic für die Nacht zum 15. April 1912 getroffen wird. Und mehr kann ein Offizier auch nicht veranlassen – er hat nicht die Befugnis, die Geschwindigkeit dauerhaft zu reduzieren oder aber den Kurs komplett zu ändern. Ein Offizier kann auch nicht die Anweisung geben, den Ausguck zu verdoppeln – das alles liegt im Ermessen des Kapitäns.
Im Ermessen des Kapitäns liegt es auch, ob er auf der Brücke bleibt und damit den dienstälteren Offizier mehr oder weniger zu einem Ausguck degradiert, denn die Entscheidungsgewalt liegt dann beim Kapitän, oder ob er sich in seine Kabine zurückzieht bzw. sich unter die Passagiere mischt und es den Offizieren auf der Brücke überlässt, unter seinen Befehlen für die Sicherheit des Schiffes zu sorgen.
Um 22 Uhr kommt Murdoch ein weiteres Mal auf die Brücke der Titanic, dieses Mal, um die Wache vom 2. Offizier Lightoller zu übernehmen. Es ist die letzte Wache, die Murdoch antritt – und er wird sie an keinen anderen mehr übergeben.
Als Murdoch zu Lightoller tritt, sagt der 1. Offizier sofort: „Es ist ziemlich kalt!“ Lightoller bestätigt dieses, indem er seiner Ablösung mitteilt, dass die Temperatur um den Gefrierpunkt liegt.
Während Murdoch, der aus dem Licht auf die dunkle Brücke gekommen ist, seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und Lightoller während dieser Zeit weiterhin der Wachoffizier ist, führen die beiden Kameraden eine lockere Unterhaltung. Sie haben sich 1900 auf der Medic kennengelernt, und auch später kreuzten sich ihre Wege immer mal wieder – beide haben sich immer recht gut verstanden.
Lightoller berichtet seinem Vorgesetzten auch von dem Besuch des Kapitäns auf der Brücke, der zwischen 21:00 Uhr und 21:30 Uhr stattfand [3] – und der Tatsache, dass Kapitän Smith der Meinung ist, trotz der herrschenden Flaute und der offensichtlich unbewegten See einen Eisberg in ausreichend großer Entfernung um klarzusteuern zu entdecken.
Mit den üblichen Formalitäten übergibt Lightoller die Wache an den 1. Offizier – und damit liegt die Sicherheit der Titanic mit ihren rund 2.200 Menschen an Bord in den Händen von William McMaster Murdoch. Er ist lange genug zur See gefahren, um sich dieser Verantwortung bewusst zu sein und gleichzeitig mit ihr leben zu können. Seit seinen Anwärtertagen auf der Bark Charles Cotesworth ist er nicht nur darauf gedrillt worden, Verantwortung zu übernehmen, sondern wurde gleichzeitig an diese Verantwortung herangeführt.
Die Nacht zum 15. April 1912 ist eine kalte aber wunderschöne Nacht – windstill und sternenklar. Doch diese äußeren Bedingungen – in Verbindung mit der Tatsache. dass kein Mond scheint und die Wasseroberfläche absolut unbewegt ist – machen die Situation für die Titanic, die zu diesem Zeitpunkt mitten in einem Eisfeld steckt, auch gefährlich.
Wusste Murdoch, dass die Titanic während der rund nächsten drei Stunden seiner Wache mit voller Kraft voraus mitten durch ein Eisfeld dampft? Vor dem britischen Untersuchungsausschuss sagt Lightoller zumindest aus, dass er seiner Ablösung zu verstehen gab, dass sie nun im Eis waren. Dass die Bedingungen für das Sichten von Eisbergen im Kurs der Titanic nicht herausragend sind, ist Murdoch mit Sicherheit klar, dafür hat er ausreichend Erfahrungen auf dem Nordatlantik sammeln können. Doch er kann nichts weiter machen als unter den Befehlen des Kapitäns, die ihm Kurs und Geschwindigkeit vorgeben, seine Wache zu führen.
Im Ausguck im sogenannten Krähennest befinden sich Frederick Fleet und Reginald Lee – sie würden um Mitternacht abgelöst werden – auf der Brücke übernimmt Murdoch selbst den Ausguck, während der 4. Offizier Boxhall und der 6. Offizier Moody die beiden dienstjüngeren Offiziere der Wache sind und ebenfalls um Mitternacht abgelöst werden würden. Moody beaufsichtigt den Rudergänger und ist für das Führen des Logbuchs verantwortlich (dieses Logbuch, das sogenannte Groblog, würde später vom Chief Officer un das offizielle Logbuch umgeschrieben werden), während Boxhall nach eigenen Angaben entweder den größten Teil der Wache auf der Brücke oder aber im Kartenraum verbringt (seine Aussagen zu diesem Punkt unterscheiden sich erheblich).
Fleet berichtet bereits 1912 in einem Rettungsboot und später auf der Carpathia, dass er schon vor der Sichtung des fatalen Eisbergs die Brücke über andere Eisberge im oder dicht beim Kurst informiert hat, und er geht davon aus, dass auf der Brücke deswegen nichts unternommen wird, seine Warnungen also nicht beachtet werden. Doch sein Kamerad Lee berichtet, dass man im Krähennest nicht sehen oder hören kann, wer auf der Brücke ist und was dort vor sich geht.
Murdoch kann außer dem Versuch des Klarsteuerns, was ihm ja auch bis 23:40 Uhr offensichtlich immer gelingt, nichts unternehmen, außer den Kapitän zu informieren. Es liegt nicht an Murdoch, die Geschwindigkeit herabzusetzen und/oder den Kurs zu ändern. Die Frage ist, ob Murdoch den Kapitän über die Sichtung von Eisbergen in Kenntnis setzt [4]. Die Anweisung des Kapitäns an die Wachoffiziere lautet gemäß Lightoller, dass er informiert werden möchte, wenn es auch nur in irgendeiner Form zweifelhaft werden sollte [5]. Doch „zweifelhaft“ ist sicherlich ein dehnbarer Begriff. Da ein Wachoffizier den Kapitän nur dann wecken lässt, wenn es wirklich unvermeidlich ist (sonst bekäme er womöglich zu hören: „Und deswegen haben Sie mich geholt? Sind Sie denn nicht in der Lage, eine Wache selbständig zu führen?“), ist es abhängig davon, ob Murdoch der Auffassung ist, dass man tatsächlich Eisberge auch unter diesen widrigen Bedingungen rechtzeitig genug zum Ausweichen ausmachen kann bzw. ob er die Einschätzung des Kapitäns, dass man Eisberge auch unter diesen Bedingungen immer noch rechtzeitig ausmacht, durch die Sichtungen bestätigt sieht. Wenn Murdoch allerdings trotz der Sichtungen die Überzeugung hat, dass die Geschwindigkeit zu hoch ist, ist es die Gelegenheit, den Kapitän mit dem Hinweis auf die Sichtungen dezent darauf hinzuweisen, dass der Kurs geändert oder aber die Geschwindigkeit reduziert werden sollte.
Viel spricht dafür, dass Murdoch Smith tatsächlich über die Sichtungen der Eisberge vor der Kollision informiert, denn Boxhall sagt sowohl vor dem amerikanischen als auch vor dem britischen Untersuchungsausschuss aus, dass er den Kapitän „oft während der Wache“ „in der Zeit von acht Uhr bis zur Kollision“ sieht. Da Smith nicht nur auf der Brücke gewesen sein wird, um die schöne aber kalte Nacht zu genießen und sich ein wenig die Beine zu vertreten, müssen wir davon ausgehen, dass auch der Kapitän wusste, dass Eisberge im oder beim Kurs gesichtet wurden – und offensichtlich scheint er sich durch das Klarsteuern darin bestätigt zu sehen, dass seine Entscheidungen hinsichtlich Kurs und Geschwindigkeit richtig sind.
Für Murdoch ist diese Wache, die seine letzte werden sollte, nur eine weitere der zahlreichen, in der er seine Laufbahn bei der White Star Line – quasi auf Anordnung des Kapitäns – aufs Spiel setzt. Ein ernster Zwischenfall, und er würde im nächsten Hafen seine Papiere bekommen und sich einen neuen Arbeitgeber suchen dürfen.
Um 23:40 Uhr nimmt dann das Verhängnis seinen Lauf. Ein Eisberg wird direkt voraus gesichtet. Der Ausguck Frederick Fleet schlägt die Glocke im Krähennest drei Mal an – das Zeichen für ein Objekt voraus, wobei durch dieses Signal nicht näher definiert wird, was es ist – und ruft dann die Brücke an, „weil er [der Eisberg] so nah war.“ [Fleet vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss.] Die Antwort von der Brücke lautet gemäß Fleet: „Danke.“
Fleet sagt ebenfalls vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss, dass sein Kamerad Leed bereits während des Telefonats von Fleet mit der Brücke bemerkte, dass die Titanic nach backbord abdrehte.
Der 4. Offizier Boxhall berichtet vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss, dass er sich gerade der Brücke näherte und direkt nach den drei Glockenschlägen bereits Murdochs Ruderkommando „Hart steuerbord“ [1912 wurden die Ruderkommandos entsprechend der Drehrichtung des Hecks gegeben, durch wich die Titanic nach backbord aus] hörte. Da Murdoch jedoch aufgrund der drei Glockenschläge nicht wissen kann, was voraus gesehen wurde und wie weit es entfernt ist, muss der 1. Offizier den Eisberg selbst ebenfalls gesehen haben, sehr wahrscheinlich zeitgleich mit Fleet.
Während Quartermaster Hichens das Ruder in die gewünschte Richtung dreht, bedient Murdoch die Maschinentelegraphen. Boxhall behauptet, sie hätten auf „volle Kraft zurück“ gestanden, als der 4. Offizier die Brücke betrat, jedoch haben die Überlebenden aus dem Maschinenraum in der Mehrheit das Kommando „Stopp“ und keiner von ihnen „volle Kraft zurück“ auf der Anzeige im Maschinenraum gesehen.
Welches Maschinenkommando es auch immer ist – die Zeit zwischen Kommando und Kollision reicht nicht aus, um den Befehl noch auszuführen. Das wird durch die Angaben der Überlebenden der Black Gang bestätigt, die berichten, dass der Maschinentelegraph läutete und direkt danach krachte es auch schon.
Boxhall ist ein wichtiger Zeuge, der belegt, dass zwischen Sichtung des Eisbergs und Kollision nicht die allgemein angenommenen 40 Sekunden verstreichen. Der 4. Offizier sagt aus, dass wenige Augenblicke nach dem Ruderkommando die Titanic den Eisberg berührte.
Quartermaster Hichens bestätigt Boxhalls Einschätzung vor dem britischen Untersuchungsausschuss, denn Hichens sagt aus, dass er gerade den Ruderbefehl erhalten hatte, als das Schiff mit dem Eisberg kollidierte, dann revidiert er es dahingehend, dass er gerade begonnen hatte, das Ruder hart über zu legen, und letztendlich legt er sich darauf fest, dass er das Ruder gerade hart über gelegt hatte, als die Kollision eintritt. Das Ruder hatte einen Drehbereich von 40°, bis es hart über liegt.
Als die Titanic den Eisberg berührt, muss das Heck des Schiffes „gerettet“ werden. Das kann nur durch ein gegensätzliches Ruderkommando passieren. Das jedoch ist laut Hichens nie gegeben und dementsprechend niemals ausgeführt worden. Dennoch sagt der Matrose Scarrott aus, dass er beobachtete, wie die Titanic nach steuerbord abdrehte, während sie den Eisberg passierte.
Da Murdoch bereits die Maschinentelegraphen selbständig und ohne sich selbst lauthals einen Befehl zu geben bedient hat, könnte es sein, dass der 1. Offizier ein weiteres Mal selbst in die Speichen des Steuers gegriffen hat, wobei fraglich ist, ob er überhaupt die Zeit dafür hat, schließlich wird Murdoch von Boxhall dabei beobachtet, wie er den Schalter bedient, der die automatischen Schotten im Rumpf schließt. Andererseits steht der 6. Offizier Moody direkt neben dem Rudergänger, und auch Moody hat bereits einige Jahre Seefahrtserfahrung und ist im Besitz des Kapitänspatents. Selbst dem jüngsten Titanic-Offizier wird bei dem Geräusch, das die Kollision mit dem Eisberg signalisiert, klar gewesen sein, dass ein komplettes Aufreißen des Schiffsrumpfes verhindert werden muss. Da irgendwann im Laufe dieser Sekunden nach dem Befehl „hart steuerbord“ sowie dem Freikommen der Titanic ein Gegenruderkommando vielleicht nicht gegeben, so aber doch ausgeführt werden muss, ist es vielleicht Moody, der durch ein beherztes Eingreifen auf Eigeninitiative die Titanic davor bewahrtm dass die komplette Steuerbordseite aufgerissen wird.
Eine Frage, die sich im Rückblick aufdrängt, ist, warum Murdoch überhaupt noch versucht hat, klarzusteuern. Dazu sagt Sir Robert Finlay, Vertreter der White Star Line vor dem britischen Untersuchungsausschuss, alles, was man dazu sagen kann: „Man muss Folgendes bedenken: Angenommen Mr. Murdoch hätte direkt [auf den Eisberg] draufgehalten, nur abstoppend und auf Rückwärtsfahrt umschaltend, was hätte ein Gericht [jeder Unfall auf See zieht eine Gerichtsverhandlung nach sich] über sein Verhalten gesagt? Er hätte es dem Gericht nicht deutlich machen können, dass er, wenn er nach backbord ausgewichen wäre, von diesem Stück Eis berührt worden wäre und seine Seite wie von einem Sardinenmesser aufgeritzt worden wäre. Man hätte ihm gesagt: „Sie sind der gröbsten Fahrlässigkeit schuldig; wenn Sie nach backbord ausgewichen wären, hätten Sie nach menschlichem Ermessen den Berg nicht berührt!““
Vom Wachoffizier wurde ganz einfach erwartet, dass er eine Kollision verhindert. Und Murdoch konnte nicht wissen, was wir heute wissen: Dass die Titanic eben nicht unsinkbar ist. Wäre Murdoch das Ausweichmanöver gelungen, hätte übrigens niemand seine Aktionen in Frage gestellt. Außerdem ist Murdoch in jener Nacht während seiner letzten Wache bereits andere erfolgreiche Ausweichmanöver gefahren – warum soll er ausgerechnet bei dem um 23:40 Uhr gesichteten Eisberg ein anderes Verhalten an den Tag legen?
Schon direkt nach der Kollision weiß Murdoch, dass seine Tage bei der White Star Line gezählt sind. Und da es seine Wache ist, muss er natürlich auf der Brücke bleiben, wodurch er aber auch über die eintreffenden Schadensmeldungen informiert ist. Murdoch gehört damit zu denjenigen, die zuerst wissen, dass die Titanic schwer beschädigt ist und ihre Fahrt nicht fortsetzen kann. Und er gehört auch zu denjenigen, denen zuerst klar ist, dass die Titanic sinken wird.
Als dienstälterer Offizier mit dem Kommando über die Brücke zum Zeitpunkt der Kollision ruht eine große Verantwortung auf seinen Schultern, und dass er gewillt ist, sich dieser Verantwortung in der Tradition der See zu stellen, wird durch die berühmte Abschiedsszene vom 3. Offizier Pitman deutlich: Murdoch überträgt Pitman dasa Kommando über Boot 5, dem zweiten Boot, das gefiert wird, reicht ihm die Hand und sagt: „Good-bye, good luck“ [Auf Wiedersehen, viel Glück]. Pitman sagt später aus, dass Murdoch dabei nicht den Eindruck machte, als würde er davon ausgehen, den 3. Offizier wiederzusehen.
Mit dem Wissen, dass weder die Titanic noch er selbst lange genug leben werden, um den nächsten Sonnenaufgang zu sehen, zeigt Murdoch beim Einbooten eine herausragende Leistung. Überlebende sagen, dass sie Murdoch an folgenden Booten beim Beladen oder beim Abfieren (wobei er manchmal selbst einen Davit bediente) gesehen haben: 7, 5, 3, 1, 9, 11,15, 10, 14, 2, C, A – das sind übrigens zwölf von 20! [6]
Murdoch geht nach folgendem Schema beim Beladen der Boote vor: „Frauen und Kinder zuerst, und wenn dann noch Platz ist, können Männer diesen auffüllen.“ Die Boote, die unter Murdochs Befehlen beladen und gefiert werden, sind generell voller als andere, und Murdoch ist auch der einzige Offizier in jener Nacht, der wenigstens einige Boote bis zu ihrer maximalen Kapazität und sogar darüber hinaus belädt und sicher abfiert.
Überlebende berichten, dass der 1. Offizier während des Einbootens „aktiv, bestimmt, ruhig und gelassen“ auftritt. Offensichtlich konnte Murdoch nicht nur den Schock der Kollision überwinden bzw. bei der Arbeit vergessen, sondern er stellt sich zugleich auch noch den Tatsachen – während des Einbootens wird ihm dramatisch vor Augen geführt, welche Konsequenzen das zu späte Sichten des Eisbergs und das dadurch fehlgeschlagene Ausweichmanöver hat. – Der andere Mann in der Verantwortung, Kapitän Smith, drückt sich mehr oder weniger. Er wird bei den Booten 6 und 8 (interessanterweise keines der Boote, an denen Murdoch war) gesehen und hält sich ansonsten offensichtlich auf der Brücke auf, wo er mehr oder weniger mit sich alleine ist. [7]
Murdoch ging mit der Titanic unter und verlor sein Leben. Die Diskussion darüber, wie er umgekommen ist, erreichte ihren absoluten Höhepunkt, nachdem James Camerons „Titanic“ in den Kinos angelaufen war. – Zuerst einmal sei erwähnt, dass es keine Diskussion über die Bestechungsszene gab. Soweit ich es beurteilen kann, sind sich alle Titanicer darin einig, dass Cameron überzeugender gewesen wäre, wenn er ein Drehbuch geschrieben hätte, in dem Cal versucht, sich Wilde oder Lightoller in dieser Form zu nähern.
Aber besonders in Großbritannien gab es eine heftige Diskussion und sogar einen hitzigen Streit über Murdochs Tod. Es gibt Berichte von Überlebenden, die den Schluss zulassen, dass sich einer der Offiziere erschoss. Der übliche Schluss und die offensichtlich beste Wette ist Murdoch, da er ein Motiv hatte. Doch wenn wir sein Verhalten während des Einbootens betrachten, erscheint es mehr als unwahrscheinlich, dass Murdoch zuerst überzeugend auftritt und scheinbar alles überwunden bzw. erfolgreich verdrängt hat, und danach dann doch von Schuldgefühlen überwältigt wird und sich deswegen erschießt. Letztendlich hat Murdoch nur das späte Sichten des Eisbergs [8] sowie das Ausweichmanöver zu erklären – der Kurs und die Geschwindigkeit, die jedoch unabdingbare Voraussetzung für die Katastrophe waren, lagen nicht im Zuständigkeitsbereich des 1. Offiziers.
Das Problem mit dem Selbstmord und mit Murdoch ist zudem, dass Murdoch bis zum Schluss lebend gesehen wurde. Es ist offensichtlich, dass es dafür nicht sehr viele Zeugen gibt, denn viele von denen, die bis zum bitteren Ende auf dem Schiff blieben, haben nicht überlebt. Aber dennoch gibt es Zeugen, die Murdoch von dem Verdacht, ein Selbstmörder zu sein, entlasten.
Der erste ist der 2. Offizier Charles Herbert Lightoller. Er sagte vor dem amerikanischen und britischen Untersuchungsausschuss und zudem in einem Brief an Murdochs Witwe, dass er beobachtete, wie Murdoch an den Fallen von Boot A arbeitete und von einer Welle über Bord gespült wurde.
Diejenigen, die möchten, dass Murdoch sich selbst tötete, behaupten üblicherweise, dass man Lightoller nun wirklich nicht glauben kann, wenn man sich mit der Titanic befasst. Allerdings sind Lightollers Aussagen vor den beiden Untersuchungsausschüssen 1912 inhaltlich übereinstimmend – sie unterscheiden sich in Worten, aber nicht in den Bedeutungen. Der einzige Punkt, bei dem Lightoller offensichtlich etwas zurückhielt bzw. nicht die Wahrheit sagte, ist das Thema Eiswarnungen. Lightollers Biograph sagte dazu mal: „Lightoller musste die Wahrheit bei gewissen Punkten etwas beugen.“
Da jedoch Murdochs letzte Minuten nicht direkt die Frage der Fahrlässigkeit betreffen, müssen wir Lightoller als zuverlässigen Zeugen in diesem Punkt betrachten.
Aber es gibt noch einen anderen Überlebenden, der unter den Titanicern mehr Glaubwürdigkeit erhält als Lightoller – Colonel Archibald Gracie. In seinem Buch „The Truth About The Titanic“ (erschienen 1913) schreibt Gracie:
„Drittens: Begingen entweder der Kapitän oder der 1. Offizier Selbstmord durch Erschießen?
Obwohl alle gegenwärtigen Gerüchte und Zeitungsberichte diese Frage bejahen, bin ich nicht in der Lage gewesen, einen Passagier oder ein Besatzungsmitglied ausfindig zu machen, das man als Autorität hinsichtlich der Sache, dass Kapitän Smith oder der 1. Offizier Murdoch sich erschossen hat. Im Gegenteil, ich finde vollkommen ausreichende Belege, dass er es nicht tat. Er war ein tapferer und effizienter Offizier, und kein befriedigendes Motiv für Selbstzerstörung kann vorgebracht werden. Er tat seine volle Pflicht unter schwierigen Umständen und hatte Anspruch auf Lob und Ehre. Während der letzten 15 Minuten bevor das Schiff sank, bedand ich mich auf dem vorderen Viertel des Bootsdecks an steuerbord, wo Murdoch das Kommando hatte und wo die Mannschaft unter ihm mit dem vergeblichen Verscuh, das Engelhardtboot zu fieren, beschäftigt war. Ein Pistolenschuss, der während dieser Zeit an mein Ohr gedrungen wäre, hätte sicherlich meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und später, als ich nach hinten ging, war die Entfernung zwischen uns nicht zu groß, als dass ich es nicht gehört hätte. Die „große Welle“ oder „gigantische Welle“, wie sie von Harold Bride beschrieben wurde, wusch Murdoch und die Besatzung vom Bootsdeck, bevor sie mich traf (…)“
Nachdem 1912 der Abschlussbericht des britischen Untersuchungsausschuss veröffentlicht worden war, wurde in Murdochs Heimatstadt Dalbeattie entschieden, ein Denkmal an William McMaster Murdoch zu errichten – es ist eine Erinnerungstafel am Rathaus. Außerdem wurde an der Dalbeattie High School der Murdoch Memorial Prize eingeführt, durch den herausragende schulische Leistungen belohnt werden.
Mein Dank geht an Scott Murdoch, H. C. Murdoch und Derek Webley für die Informationen, die mir im Laufe der Jahre so uneigennützig zur Verfügung gestellt wurden.
Erstveröffentlichung: Der Navigator Nr. 3, 2. Jahrgang (Dezember 1998), Deutscher Titanic-Verein von 1997 e. V. (damals: Titanic Informations Center Deutschland e. V.)
[1] Mittlerweile gibt es begründete Zweifel daran, dass Kapitän Smith NICHT auf der Brücke war. Das Buch „Dampfer Titanic: Eisberg voraus“ enthält die Argumentation, dass Kapitän Smith ab etwa 21:50 Uhr auf der Brücke der Titanic war und dort auch bis zur Kollision blieb. Die Argumentation stützt sich u. a. auf die Aussage vom 4. Offizier Boxhall vor den Untersuchungsausschüssen.
[2] Es war für Murdoch die insgesamt fünfte Jungfernfahrt auf einem Schiff der White Star Line und die vierte davon als dienstälterer Offizier: Medic (1899 – 4. Offizier), Arabic (1903 – 2. Offizier), Adriatic (1907 – 1. Offizier), Olympic (1911 – 1. Offizier) und eben Titanic (1912 – 1. Offizier)
[3] Es gibt Passagiere, die Kapitän Smith bis etwa 21:45 Uhr noch im Restaurant gesehen haben wollen und damit der von Lightoller genannten Zeitangabe für den Besuch des Kapitäns auf der Brücke widersprechen. Es gibt auch einige Argumente, die dafür sprechen, dass der Kapitän erst gegen 21:50 Uhr auf die Brücke gekommen ist, Lightollers Zeitangabe damit aus welchen Gründen auch immer falsch ist.
[4] Das ist natürlich nur erforderlich, wenn der Kapitän NICHT selbst auf der Brücke ist.
[5] Diese Anweisung ergibt Sinn, wenn der Kapitän noch während Lightollers Wache die Brücke kurzfristig verlässt – z. B. um im Kartenraum Berechnungen vorzunehmen. Laut dem 4. Offizier Boxhall war Kapitän Smith gegen 22 Uhr in seinem Kartenraum und trug die Position der Titanic von 19:30 Uhr abends ein. Smith kann nach Abschluss seiner Arbeiten im Kartenraum wieder auf die Brücke zurückgekehrt sein – Lightoller hatte die da jedoch schon verlassen, da das Ende seiner Wache gekommen war.
[6] Mittlerweile halte ich es für fraglich, dass Murdoch an Boot 1, als es beladen und gefiert wurde, denn vor dem britischen Untersuchungsausschuss beansprucht der 5. Offizier Lowe für sich, der kommandierende Offizier an dem Rettungsboot gewesen zu sein.
[7] Wie George Behe in seinem Beitrag „How the Titanic became unsinkable“ (deutsche Übersetzung in Deutscher Titanic-Verein von 1997 e. V., Der Navigator Nr. 83, September 2018) nachweist, äußerte sich Kapitän Smith über die Titanic in einer Art und Weise, die davon ausgehen lässt, dass er an die Unsinkbarkeit des Schiffes geglaubt hat. Unklar ist auch, ob irgendwo beschrieben war, welche Aufgaben ein Kapitän bei der Evakuierung seines Schiffes hatte oder ob er improvisieren musste. Auf jeden Fall bleiben Kapitän Smith und seine Aufgaben während der Evakuierung unklar.
[8] Das gilt natürlich nur dann, wenn Kapitän Smith NICHT auf der Brücle war – woran es jedoch begründete Zweifel gibt. Auf allen anderen Schiffen jener Zeit in jenem Seegebiet war der Kapitän bei der Durchquerung des Eisfelds auf der Brücke – sogar tagsüber. Warum sollte es ausgerechnet auf der Titanic anders gewesen sein?